Reben und Bäume sind von Natur aus enge Verbündete. Es mag überraschen: Die Weinrebe ist ein als Sprossenranke kletternder Strauch, der unbeschnitten die Wuchsform einer Liane entwickelt und 10 bis 20 m in die Höhe wachsen kann. Bevor diese wilden Ranken vom Menschen durch Reberziehungen gezähmt wurden, suchten sie sich den Baum als natürlichen Begleiter als Stütze. Auch unterirdisch entwickelte sich eine wertvolle Symbiose. Das von Pilzen besiedelte Wurzelgeflecht fördert die Humusbildung und die Belüftung des Bodens, der auf diese Weise mit Nährstoffen angereichert wird und ein gesundes Wachstum der Rebe unterstützt.
Zur Zeit der industriellen Revolution wurden Weinberge zur Steigerung des Ertrags durch lineare Mechanisierung in Monokulturen umgewandelt – ohne Bäume und Sträucher und vielfach ohne Grünbewuchs zwischen den Rebzeilen. Die Verbindung von Baum und Rebe ging verloren. Zumindest für lange Zeit.
Sie rückt nun mit neuen Ansätzen in den Blick der Winzer:innen: Vitiforst.
Back to the Roots – Eine neue Ära für nachhaltigen Weinbau
Weinreben reagieren empfindlich auf Umweltbedingungen. Trockenheit, starke Regenfälle und Windböen stellen große Herausforderungen dar. Steigende Temperaturen verändern die Beereninhaltsstoffe und verschieben die Reifephasen. Eine Möglichkeit, diesen Schwierigkeiten zu begegnen, bietet die Natur selbst, zum Beispiel durch die Vitiforstwirtschaft. Sie überträgt die Prinzipien der Agroforstwirtschaft auf den Weinbau.
Agroforst und Vitiforst – was ist das eigentlich?
Agroforst und Vitiforst sind landwirtschaftliche Konzepte, die Bäume und Sträucher in landwirtschaftliche Flächen integrieren. Agroforst meint die Nutzung von Bäumen, landwirtschaftlichen Kulturen und/oder Viehzucht und zielt drauf ab, die Produktivität und Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Fläche zu erhöhen. Vitiforst ist eine spezifisches Agroforstsystem, das sich auf den Anbau von Weinreben (Vitus vinifera) in Kombination mit Bäumen und Sträuchern konzentriert. Bäume, Sträucher und anderen Gehölze werden in den Weinberge integriert, um die Monokultur traditioneller Weinberge aufzubrechen. Dies verbessert die Bodenqualität und die Nährstoffversorgung der Reben.
Wissenschaftlich weitgehend erforscht ist etwa das „Mykorrhiza-Pilznetzwerk“, das Bäume und Pflanzen über ihre Wurzeln miteinander verbindet und den Austausch von Nährstoffen erleichtert („Wood Wide Web“). Vitiforst lockert den Boden, hilft, die Wasserhaltefähigkeit zu erhöhen und steigert die Vitalität der Pflanzen.
Vitiforstkonzepte werden heute bereits in den Weinbergen umgesetzt. Ein prominentes Beispiel ist das Sekthaus Raumland in Flörsheim-Dalsheim, Rheinhessen.
Mut zu neuen Wegen – die Erfolgsgeschichte des Sekthauses Raumland
Das Sekthaus Raumland ist eines der renommiertesten Sekthäuser Deutschlands. Raumland wurde als erster reiner Schaumweinproduzent Mitglied beim VDP (Verband Deutscher Prädikatsweingüter) und hat die deutsche Sektszene international weit nach vorne gebracht. Während andere vor allem auf Stillweine setzten, weil die Versektung alles andere als populär war, widmete er sich ab 1984 zusammen mit seiner Frau Heide-Rose Raumland konsequent der zu damaliger Zeit eher „verrückten“ Idee der Sektherstellung nach der “Méthode Champenoise”, der traditionellen Flaschengärmethode.
Ein guter Sekt beginnt im Weinberg
Spitzen-Sekt, Terroir und Individualität in jeder Lage ist die Philosophie und der rote Faden des Familienbetriebs Raumland, bei dem inzwischen auch die Töchter Marie-Luise und Katharina sowie Schwiegersohn Jan eingebunden sind. Bereits seit Gründung des Sekthauses setzt Raumland auf ökologische Arbeitsweisen. Der bestmögliche Schutz des Ökosystems Weinberg stand und steht dabei stets im Mittelpunkt. Im Jahr 2002 erhielt das Sekthaus Raumland die offizielle Öko-Zertifizierung.
Die Arbeitsweise lässt sich wohl am besten mit „regenerative Landwirtschaft“ beschreiben. Ihr Ziel ist es, die Bodenfruchtbarkeit zu verbessern, die Bodendiversität zu fördern und das Ökosystem zu regenerieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wird auch Kohlenstoff im Boden gespeichert und die Wasserhaltefähigkeit erhöht. Dies fördert langfristig den Erhalt gesunder Agrarflächen.
Knickhecken – was ist denn das?
Es überrascht nicht, dass Familie Raumland seit Gründung des Weinguts die Prinzipien der Vitiforstwirtschaft in der Anbaupraxis integriert hat und immer weiter verfeinert. Zwischen Rebzeilen und vor allem an den Rändern der Weinberge wachsen Obstbäume, heimische Gehölze und Wildpflanzen, die das Mikroklima der Reben beeinflussen. Dies garantiert eine vielseitige Pflanzen- und Tierwelt, die wiederum die Anzahl der Nützlinge erhöht. Nützlinge halten Schädlinge in Schach und verringern so indirekt den Pflanzenschutz. Biodiversität sorgt so für gesunde Trauben – die Grundlage für herausragenden Sekt.
Auch wenn die Weinbergstruktur in Rheinhessen eher sanft verläuft, gibt es Seitenhänge, Terrassen und Böschungen. Diese „Knicke“ in den Weinbergen der Raumlands sind bepflanzt mit verschiedenen Holundern und Schlehenarten, die wild wachsen dürfen. Sie bieten nicht nur Schutz für Kleintiere wie Rebhühner und Hasen. Sie bilden auch eine enorme Biomasse. Alle paar Jahre werden die Hecken stark heruntergeschnitten. Das hält sie nicht nur vital. Es stirb auch immer ein Teil der Wurzelbiomasse ab, die so zur Grundlage für neuen kohlenstoffreichen Humus wird. Diese neue Biomasse speichert wiederum Co2 langfristig im Boden (sog. „CarboHedge“).
„Und wenn sich ein Baum von selbst im Weinberg aussät, wie etwa Kirschen- oder Walnussbäume, dürfen diese auch bleiben und wachsen“, so Jan Raumland. Raumland pflanzte aber auch aktiv in den letzten Jahren eine Vielzahl von Bäumen. Durch die Bäume und Knickhecken entsteht ein anderes Mikroklima. Bei Starkregen, der in Rheinhessen durchaus nicht unüblich ist, helfen sie, das Regenwasser versickern zu lassen. Bei Trockenheit hingegen pumpen sie Feuchtigkeit und Nährstoffe aus der Tiefe, wovon die Reben ebenfalls profitieren.
Piwi-Rebsorten als Erweiterung der Sektherstellung
Neben Vitiforst setzt Raumland auch auf den Anbau von pilzwiderstandsfähigen Rebsorten (Piwis). Piwis werden als eigene Rebsorten gezüchtet (klassische Kreuzung wie beim Obstbau, keine Gen-Technik), die gegen Pilzkrankheiten wie den echten oder falschen Mehltau resistent sind. Erste intensive Erfahrungen mit dem Anbau, der Vinifizierung und Versektung von pilzwiderstandfähigen Rebsorten sammelte Volker Raumland in den Niederlanden im Weingut Min Zeven in Lelystad, am IJsselmeer, wo er die Versektung begleitete.
Min Zeven (auf Deutsch:“Minus Sieben“) hat gleich mehrere Besonderheiten: Das Weingut und die Reben liegen sieben Meter unter dem Meeres-Niveau, die Rebstöcke wurzeln in einem Boden, der noch vor 80 Jahren der Meeresgrund war. Neben den Reben wachsen verschiedenste Pflanzenarten. Auf synthetische Chemikalien wird verzichtet zugunsten von organischen Materialien wie Kompost und Gründung. Versektet wird ohne Schwefel, Filtration und Dosage. Und verwendet werden: Piwi-Rebsorten.
Die Gründerin des Weinguts, Silvia Anthonj, war eine Pionierin, die den Weinbau unter besonderen Bedingungen in den Niederlanden etablierte. Die Verbindung von Wein und Natur war für sie nicht nur ein Prinzip des Weinbaus, sondern auch Lebensstil aus Respekt für die Umwelt. Piwi Rebsorten zu pflanzen war Ausdruck ihrer Überzeugung, dass die Zukunft des Weinbaus in der Harmonie zwischen Mensch und Natur liegt. Mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement hat sie die Weinbaukunst in den Niederlanden auf ein neues Niveau gehoben.
Dass Weinbau nicht nur eine Kunst ist, sondern auch eine Verantwortung gegenüber der Umwelt bedeutet, hat Volker Raumland von Beginn an ebenso gelebt und diese Idee des „resilienten Ökosystems Weinberg“ verfolgt auch die ganze Familie Raumland weiter. Und so haben sie 2020 eine ihrer besten Lagen, den Bockenheimer Vogelsang, mit der Piwi-Rebsorte Souvignier Gris bepflanzt. Eine weitere Fläche wurde mit der roten Piwi-Rebsorte Pinotin ergänzt.
Mit einer weiteren Pflanzung der erst jüngst in der Champagne zugelassenen Piwi-Rebsorte Voltis wird Raumland im Jahr 2025 auf rund 15% an Piwi-Rebsorten auf deren Anbauflächen kommen.
Schaumwein und Piwis – Voltis darf nun auch mitmischen
Dass der Anbau von Piwi-Rebsorten nicht mehr aus der Weinwelt wegzudenken ist und eine interessante Zukunft hat, zeigen auch die Entwicklungen in der Champagne.
Bislang waren nur sieben Rebsorten für den feinen Prickler zugelassen. Nun sind es acht! 2022 wurde die Piwi-Rebsorte „Voltis“ für die Herstellung von Champagner AOC freigegeben und als erste Piwi-Sorte für Versuchszwecke zugelassen. Voltis gilt als gute Ergänzung zu Chardonnay.
Weingut Drappier – ökologischer Vorreiter in der Champagne
Das renommierte Champagnerhaus Drappier in Urville produziert seit 1951 eigenen Champagner. Es wird in siebter Generation von Michel Drappier geführt. Michel Drappier schrieb für sein Traditionshaus einmal mehr Geschichte, als Drappier der erste Produzent in der Champagne war, der alle acht in der Appellation zugelassenen Rebsorten anbaut. Voltis ergänzt nun das Reben-Portfolio.
Da Piwis aufgrund ihrer Resilienzen gegen die gängigen Pilzerkrankungen kaum mit Pflanzenschutzmitteln gespritzt werden müssen, eigenen sie sich besonders, um in die unmittelbare Nähe der Weingüter oder auch in unmittelbarer Wohnbebauungen gepflanzt zu werden. Ein großer Vorteil bei der engen Verzahnung von historisch gewachsenem Siedlungsraum und begrenzten Anbauflächen in der Champagne-Region.
Auch bei Drappier wird auf das Ökosystem Weinberg besonderer Wert gelegt. Champagne Drappier ist ein Vorreiter in der Region für ökologische Nachhaltigkeit und innovativen Weinbau. Da sie einen Großteil der Rebflächen auch selbst bewirtschaften – was für die Champagne eher ungewöhnlich ist – kann Drappier den hohen Qualitätsanspruch deutlich besser und leichter umsetzten.
Seit 2016 ist das Weingut das erste CO2-neutralen Gut der Champagne und wurde mit dem Umweltsiegel “‘Ecocert” ausgezeichnet. Es werden weder Unkrautvernichtungsmittel noch Insektizide eingesetzt. Die Reben werden durch mechanische Methoden gepflegt, teilweise sogar mit Pferdearbeit. Elektrische Traktoren ersetzten nach und nach den traditionellen Fuhrpark mit Verbrennungsmotoren.
Warum Vitiforst und Piwis Sinn machen
Die Einführung von Vitiforstsystemen und der Anbau von Piwis erfordern eine Umstellung in der Bewirtschaftung, beides bietet jedoch Vorteile. Die Kombination von Bäumen, Sträuchern und robusten Rebsorten macht Weinberge aus unterschiedlichen Richtungen widerstandsfähiger gegen die Herausforderungen des Klimawandels und fördert gleichzeitig die biologische Vielfalt. Dies führt zu einem gesunden, biodiversen Ökosystem, zu vitaleren Reben und vor allem zu hochwertigen Trauben. Zusätzlich sinkt Dank der natürlichen Resistenz von Piwis gegen Pilzkrankheiten der Bedarf an Pflanzenschutzmitteln erheblich und trägt damit zu einer nachhaltigen und ressourcenschonenden Weinproduktion bei. Im Ergebnis wird der aus ökologischen Sicht schädliche Fußabdruck der Weinwirtschaft reduziert.
Das Beispiel des Sekthauses Raumland und von Champagne Drappier macht deutlich: Vitiforst und Piwis können eine Antwort auf klimatische Herausforderungen sein, um den Weinbau zukunftsfähig zu machen und das selbstgesteckte Ziel zu erreichen: Auch in Zukunft beste Trauben und beste Qualität im Glas sicherzustellen.
Kunst im Weinberg
Dass Nachhaltigkeit viele Gesichter hat und auch zur Kunst werden kann, erlebt man bei einem Spaziergang durch die Weinberge in Urville. Dort kann man ins Rebenmeer schaukeln – auf alten Rüttelpulten, die viel zu schade sind, um sie zu entsorgen. Und wenn man sich das große Holzgerüst als Rahmen denkt und hindurchschaut, kann man es sehen: Das Kunstwerk “Weinberg”.
Ein Vorbild für die Zukunft und für höchste Qualität
Auch wenn heute die Reben nicht mehr so gezogen werden, wie im Gemälde von Hackert. Die beiden Weingüter Raumland und Drappier und auch Min Zeven kombinieren traditionelle Weinbaupraktiken mit zukunftsorientierten, umweltfreundlichen Lösungen. Sie leben einen integrativen Ansatz mit ökologischer Verantwortung und zeigen immer wieder Mut und Leidenschaft, Neues auszuprobieren und Bekanntes weiterzuentwickeln.
Ein dicht bewucherter Weinberg, der kaum noch Reben und Rebzeilen erkennen lässt. Das geht nur mit den robusten Piwi-Rebsorten wie hier dem roten Pinotin. Auf die ersten Ergebnisse werden wir bei einer Flaschengärung im Sekthaus Raumland von mindesten 36 Monaten noch etwas warten müssen. Ich bin gespannt und freue mich drauf.
Und eines ist gewiss: Das Sekthandwerk ist und bleibt eine Kunst!