Über die Autorin: Karina Pawlow
Karina Pawlow ist Kunst- und Bildhistorikerin und freie Autorin, die vorrangig zu west- und osteuropäischer Kunst zwischen 1400 und 1900 sowie der Filmgeschichte und -theorie arbeitet.
In Ihrer Dissertation, die sie am DFG-Projekt „Dimensionen der techne in den Künsten“ schreibt, befasst sie sich mit Kunsttechnologien und Materialkunde, speziell dem Glas.
Das Art & Wine Magazine bedankt sich für den Gastbeitrag über „Venezianisches Glas“.
Gesittetes Weintrinken und was venezianisches Glas damit zu tun hat
Es gab Zeiten, da hatte ich in meinem Küchenregal genau vier Weingläser stehen. Pressglas, leicht bauchig, dicklicher Stiel mit Nodus, definitiv nichts Besonderes. “Warum auch?”, habe ich mich damals gefragt, denn schließlich war es der Ungarischen Mädchentraube egal, aus welchem Glas ich sie schlürfte. Wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, für Schaumwein, Rotwein, Weißwein usw. eine andere Glasform zu verwenden? Und wie hält man diese ausgeklügelten Trinksysteme eigentlich richtig, ohne sich als völliger Kulturbanause zu entpuppen? Rund zehn Jahre, unzählige Weinflaschen, diverse Tastings (die mir so etwas wie ‘Trinkkultur’ vermittelt haben), ein Kunstgeschichtsstudium und eine laufende Promotion zu muranesischem Glas später kann ich sagen: Die Venezianer haben es verbrochen.[1]
Wer schon einmal in Venedig war, dem sind die mit Glasobjekten beladenen Schaufenster-Regale sicherlich nicht entgangen. Die Geschichte von Muranoglas ist unmittelbar mit der Geschichte der Lagune verbunden, und das merkt man an jeder Ecke. Auch wenn heute eher der Eindruck entsteht, dass es sich dabei um überteuerte Trödelware handelt (Kätzchen und Pferde aus Glas sind freilich Geschmackssache), genießt Glaskunst aus Murano nach wie vor hohes Ansehen. Allerdings ist sie gut versteckt: in schicken Hotels, herrschaftlichen Schlössern und zwischen den glänzenden Seiten von Inneneinrichtungsmagazinen. Und wer sich gerne den wirklich guten Tropfen gönnt, der trinkt diesen nicht selten aus mundgeblasenen muranesischen Kelchen.
cristallo und die Glasrevolution um 1450
Ihren Ruf als Produzenten von Luxusware ausgezeichneter Qualität und virtuoser Kunstfertigkeit konnten sich die Muraneser in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erwerben. Durch jahrelange Perfektionierung ihrer glastechnologischen Verfahren gelang es den Glasmachern (vetrai) nämlich, aus dem einfachen durchsichtigen Glas (vitrum blanchum), das je nach Komponentengehalt leichte Verschmutzungen und/oder Verfärbungen (der meist typische Grünstich) aufwies, ein lupenreines, farbloses Glas herzustellen, das sie aufgrund seiner Ähnlichkeit zum teuren Bergkristall cristallo tauften.
Neben seiner optischen Qualitäten überzeugte dieses Glas mit positiven Eigenschaften für die Verarbeitung der Glasmasse zum Objekt. Aufgrund genau dieser Erfindung gelang den Venezianern eine Revolution: Die Gefäßproduktion konnte vom herkömmlichen Glas auf die Herstellung von Luxusware ausgeweitet werden. Nutzte bis um 1500 selbst die Nobilität nebst Becher (Abb. 1) formtechnisch daran angelehnte Kelche (Abb. 2), die vorrangig durch Emaillebemalung dekoriert wurden, so zeichnete sich das neue, 16. Jahrhundert durch eine immer größere Variantenvielfalt in der Glasplastik aus (Abb. 3).
Neben dem kollektiven Trinken, das schon seit jeher als ‘sozialer Kleber’ fungierte, konnten die Wohlhabenden, die das nötige Kleingeld für raffinierte Glaskunst hatten, bei üppigen Banketten einerseits als Gastgeber:innen den eigenen Prunk und sich selbst ganz im Sinne einer renaissancezeitlichen Tugend, dem splendore, präsentieren. Andererseits konnte die fantasievolle Glaskunst direkt im Umgang mit dem Glas bewundert werden.
Titel: Hochzeit zu Kana
Quelle: Wikipedia
Neue Gläser, neue Trinksitten
Wie das genau ausgesehen hat, zeigt uns Paolo Veronese in seiner Hochzeit zu Kana von 1563 (Abb. 4). Die U-förmige Tafel ist beladen mit venezianischer cristallo-Ware soweit das Auge reicht. Als würde das nicht genügen, steht hinter einer palladischen Fantasiearchitektur eine scheinbar meterhohe credenza (Anrichte) versteckt, von der Diener gerade neue Teller zum Tisch tragen. Der in prächtigem Gewand bekleidete coppiere, eine Art italienischer Proto-Sommelier, bewundert am rechten Tafelende den Inhalt der flachen venezianischen tazza auf balustriertem Stiel: Soeben hat der am Tisch sitzende Jesus sein erstes öffentliches Wunder vollbracht und das Wasser in den Steinkrügen in Wein verwandelt (Joh 2,1-12).
Es gehörte zu den unmittelbaren Aufgaben des coppiere, die Güte von Wein zu prüfen, seinen Herren und seine Herrin zu beraten und ihnen den für ihr Wohlbefinden richtigen Tropfen einzuschenken, diesen aber auch auf eine eventuelle Vergiftung hin zu prüfen. Das macht der coppiere nicht irgendwie: Er greift die tazza am Fuß, hält sie dabei von unten mit dem Daumen fest und von oben mit den anderen Fingern, wobei er den Stiel zwischen Zeige- und Mittelfinger schiebt.
Machen wir ein gemeinsames Experiment, nehmen dafür ein Weinglas aus dem Regal, befüllen es, und halten es so, wie es Veroneses coppiere demonstriert. Und jetzt versuchen wir, das Glas elegant und ohne den Inhalt zu verschütten an den Mund zu führen. Kippen, trinken, aaah! Geschafft? Ich wage es nicht, an Ihrer Körperbeherrschung zu zweifeln, sondern wollte vielmehr vorführen, wie anders das Trinken aus einem solchen Glas im Vergleich zu einem einfachen Becher, den man buchstäblich in sich hinein kippen kann, vonstattengeht.
Den Oberkörper leicht nach vorne geneigt kann daraus lediglich langsam und kontrolliert geschlürft werden, stets das Glas zwischen den Fingern balancierend. Dabei beeinflussen weiterhin die Form und Größe der Kuppa sowie der Glasöffnung die Körperhaltung – denken Sie nur an die Schwierigkeit, mit der das Trinken aus einer schlanken Flöte im Vergleich zu einem gewöhnlichen Weinglas verbunden ist. Was diese Gläser leisten, ist ein Form der Körperkontrolle, die sich im langsamen, moderaten Trinken niederschlägt.
Quelle & Foto Credit: www.cmog.org
Kelche halten wie Prinzen und Prinzessinnen
Dass man einen venezianischen Kelch mit pflanzlicher und zoomorpher Stielplastik (Abb. 5) nun nicht wie einen Becher oder ein modernes Weinglas am geraden Stiel greifen kann, ist eine zwingende Konsequenz seiner Form. Andernfalls sieht man so aus wie der Herr links außen an Vernoses Tafel: irgendwie plump. Solche Glashandhabung wurde damals explizit verpönt, denn mit der Verkomplizierung der Glasformen veränderten sich auch die Tischmanieren, die ein Edelmann und eine Edeldame – wenn sie denn etwas auf sich und ihre Bildung hielten – bei offiziellen Empfängen und Banketten an den Tag zu legen hatten. Dies verdeutlichen zahlreiche schriftliche Anweisungen wie La Civil Conversazione von Stefano Guazzo (1574).
Gerard de Lairesses Traktat zur Malerei und Zeichnung Groot schilderboek, das 1707 in Amsterdam erschienen ist, zeigt wiederum, dass sich der etablierte Trinkusus über Italien hinaus zusammen mit den venezianischen Gläsern in den anderen Ländern Europas verbreitete und noch lange nach der Renaissance Bestand hatte.
Title: Illustration
Quelle: Wikipedia
De Lairesse erläutert mithilfe von Illustrationen, wie man gebildetes von ungebildetem Volk unterscheiden kann, und macht dies an Körperhaltung, an der Handhabung eines Löffels und – für uns interessant – an der Handhabung von Bechern und Kelchen fest (Abb. 6). Dabei dienen die Illustrationen von Ex: I, Nr. 1 und 2, die zwei Formen des Haltens eines Bechers darstellen, als Beispiele für Ungebildete.
Das Halten eines Kelchs (Nr. 3-5) hingegen inkludiert unter anderem den uns bekannten abgespreizten kleinen Finger: Eine grazile Geste, die laut de Lairesse einer Prinzessin würdig ist. Vergleichen wir diese Illustrationen mit Veroneses coppiere, so merken wir schnell, das seine eigentümliche Art, den Kelch am Fuß zu greifen, ihn als außerordentlichen Kenner seines Metiers auszeichnet – kein Wunder, denn diese angesehene Aufgabe fiel in der Regel keinem ‘einfachen Diener’, sondern einem Hochgestellten zu, was man an dem weißen, kostbar bestickten Gewand erkennt.
Titel: Gastmahl im Hause Levi (1573)
Quelle: Wikipedia
Komplexere Glasformen erforderten elaborierte Manieren nicht nur von den Gästen, sondern auch vom bedienenden Personal. Im etwas später entstandenen Gastmahl im Hause des Levi (1573), ebenfalls von Paolo Veronese (Abb. 7), sehen wir auf der Treppe einen Diener, der aus einer cristallo-Flasche einschenkt. Wohlgemerkt hält er diese nicht etwa am Körper oder Hals, sondern an der Basis, ähnlich wie wir es von heutigen Weinflaschen kennen, die man von unten in die Mulde greifend halten kann.
Wir sehen also, dass heutige Trinkgepflogenheiten tief in der italienischen Renaissancekultur verwurzelt sind. Und auch wenn diese manchmal hochkompliziert erscheinen, bin ich den Italiener:innen, nachdem ich das alles weiß, sehr dankbar: Neben ausgezeichneten Weinen in elaborierten Gefäßen drückten sie schon im 16. Jahrhundert – anders als der Rest Europas – jedem Gast ein eigenes Glas in die Hand. Ansonsten würden wir uns wahrscheinlich noch heute die Becher mit X weiteren Gästen am Tisch teilen. Prost, Mahlzeit!
Appendix
Abb. 1: Venezianisch: sog. Behaim-Becher, um 1495, cristallo emailliert, H. 10,7 cm, Corning Museum of Glass, New York. www.cmog.org/artwork/behaim-beaker
Abb. 2: Venezianisch: Emaillierter Kelch, um 1500, cristallo, H. 16,2 cm, Corning Museum of Glass, New York. www.cmog.org/artwork/enameled-goblet?search=collection%3Aa4a25050154bd638353733c26a19988e&page=31
Abb. 3: Venezianisch: Trompetenförmiger Kelch, um 1575-1626, cristallo, H. 20,8 cm, Corning Museum of Glass, New York. www.cmog.org/artwork/goblet-1460?search=collection%3A48c4467cd9d27c79f082234163822c07&page=26
Abb. 4: Venezianisch: Kelch mit zoomorphem Stiel und Blüte, um 1700, cristallo, H. 18 cm, Corning Museum of Glass, New York. www.cmog.org/artwork/winged-goblet-6?search=collection%3Adaa801b8b461f1023b4e7e8270238373&page=20
Titelbild, nur vollständiges Format: Paolo Veronese: Hochzeit zu Kana, 1563, Öl auf Leinwand, 660 × 990 cm, Musée du Louvre, Paris.
Abb. 6: Gerard de Lairesse: Plate XII aus “Het groot schilderboek”, Amsterdam 1707. commons.wikimedia.org/wiki/File:G%C3%A9rard_de_Lairesse_-Illustration-_WGA12398.jpg
Abb. 7: Paolo Veronese: Gastmahl im Hause des Levi, 1573, Öl auf Leinwand, 560 × 1309 cm, Accademia, Venedig. upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f1/Paolo_Veronese_007.jpg
[1] Gender-Disclaimer: Das von mir verwendete Maskulinum ist kein generisches, sondern ein historisches. Bis zum Zerfall der Republik Venedig (um 1800) sahen es die Regelungen der Gilden vor, dass ausschließlich Männer die Ausbildung zum Glasmacher antreten durften.